(Dieser Artikel ist im Original in der Dezember-Ausgabe der ÖH-Zeitschrift zeitgenossin erschienen und wurde mit freundlicher Genehmigung übernommen.)
Über das radikale emanzipatorische Potenzial im Lobau-Protestcamp
Die österreichische Klimabewegung hat mit dem Stopp der Lobau-Autobahn einen historischen Sieg errungen. Aber der Kampf geht weiter: Seit über drei Monaten verhindern Aktivist_innen durch die Besetzung von drei Baustellen in Wien-Hirschstetten den Bau der geplanten Stadtautobahn. Was als spontane Aktion startete, hat sich zu einer breiten Bewegung und einem alternativen Raum entwickelt, in dem basisdemokratische Selbstorganisierung stattfindet. Klar ist damit auch: Bei dem Lobau-Protestcamp geht es schon seit langem um mehr als nur den Baustopp.
Es gibt viele gute Gründe, das Lobau-Protestcamp zu unterstützen. Da wäre einerseits das Offensichtliche: Das Prestige-Projekt von Bürgermeister Ludwig ist schon alleine so klimaschädlich, dass die Stadt Wien damit ihre selbstgesteckten Klimaziele für das Jahr 2040 verfehlen wird. (1) Nachweislich wird die Durchquerung des Nationalparks Donau-Auen das dortige Ökosystem gefährden und die neuen Straßen zu einer höheren Verkehrsbelastung führen. Mensch und Natur vor Ort werden unter dem Megaprojekt zu leiden haben, so viel steht fest. Aber hier hört die Kritik nicht auf.
Eine Verkehrspolitik für weiße, gutverdienende cis-Männer
Wer würde von dem Bau der Stadt- und Lobau-Autobahn profitieren? Ein Faktencheck zeigt, dass das Milliardenprojekt sinnbildlich für eine fossile und antisoziale Verkehrspolitik steht, deren Zweck es ist, das kapitalistische System Auto zu sichern. Der Verkehrssektor ist Österreichs Klimakiller Nummer 1. Zwischen 1990 und 2018 ist der Anteil des Verkehrs am CO2-Ausstoß Österreichs von 18% auf 30% gestiegen; in Wien sind es sogar 42%. (2) Dabei ist der Besitz von Privatautos extrem ungleich verteilt, da sich Geringverdiener_innen oft kein Auto leisten können. (3) Ebenso sind es vor allem Männer, die mit ihren Mobilitätsmustern von Autobahnen profitieren. (4) Das liegt daran, dass Frauen*, die nach wie vor in der Regel die Reproduktionsarbeit leisten, komplexere Wege in der Stadt zurücklegen, die nicht durch Autobahnen abgedeckt werden. (5) Aber auch die Kosten neuer Autobahnen sind ungleich verteilt: Einerseits sind es vor allem Haushalte mit niedrigem Einkommen, die Lärm und Luftverschmutzung überproportional ausgesetzt sind, andererseits betreffen die Folgen der Klimakrise, die durch den Bau neuer Autobahnen angeheizt wird, vor allem Menschen im Globalen Süden. (6) Diese Tendenzen werden durch die Lobau- und Stadtautobahn befeuert und sorgen dafür, dass Menschen in Wien auf Jahrzehnte an das Auto gefesselt werden.
This is what democracy looks like
Aber hinter der inhaltlichen, klimapolitischen Kritik an dem Lobau-Projekt schlummert ein radikales emanzipatorisches Potenzial im Protestcamp selbst. Aktivist_innen haben sich hier einen freien Raum geschaffen, in dem außerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik soziale Beziehungen neu gedacht werden können. Das Camp, wie auch große Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung, sind geprägt von einem präfigurativen Politikverständnis. Präfiguration in sozialen Bewegungen bedeutet, dass Protestierende versuchen, die politischen Ziele mit ihren Mitteln zu erreichen. (7) Ganz im Gegenteil zu traditionellen Auslegungen von trotzkistischen und leninistischen Protestformen, bei denen der Zweck die Mittel heiligt, ist den Aktivist_innen daran gelegen, durch ihren Protest selbst alternative Institutionen aufzubauen. (8) Das betrifft basisdemokratische Entscheidungsfindungen genauso wie Reflexionen über Herrschaftsverhältnisse und Privilegien. Man könnte auch sagen: Die Revolution wird gelebt. Aber wie manifestiert sich diese Haltung auf dem Camp? Welche Herausforderungen bedeutet das alltägliche Zusammenleben? Und wie weit steht es wirklich um die Revolution? Darüber spreche ich mit einer Aktivistin von einer der besetzten Baustellen.
Selbstorganisierung am Camp – ein Interview
Sascha: In der alltäglichen Routine zwischen Abwasch und Feuermachen kann die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft stark in den Hintergrund treten. Ist das frustrierend?
Rosa: Ich glaube, dass die Utopie tatsächlich manchmal sehr nahe ist. Einfach wegen diesem starken Gefühl, dass wir uns hier einen Raum geschaffen haben, den wir komplett frei gestalten können. Aber natürlich ist dieser Raum daran gebunden, dass wir nicht geräumt werden. Das macht den Raum weniger inklusiv gegenüber Menschen, die besonders stark von Repressionen betroffen sind oder nicht von einem sozialen Netz in der Stadt aufgefangen werden können.
S: Die Menschen hier am Camp kommen teilweise aus sehr unterschiedlichen Kontexten und sozialen Bewegungen. Wie schafft ihr es, euch gemeinsam zu organisieren?
R: Morgens und abends finden Plena statt, in denen Konsensentscheidungen im Rahmen unseres Aktionskonsenses getroffen werden. Am Eingang unseres Grätzls hängt ein Awareness-Text, wo ganz klar steht, dass Diskriminierungen jeder Form nicht geduldet sind. Insgesamt findet eine Politisierung über Workshop-Angebote statt und über Menschen, die eine Konstante am Camp bilden und sich schon länger in linken Kreisen aufhalten.
S: Was bräuchte es deiner Meinung, damit sich das Camp noch entschlossener feministisch positioniert?
R: Es kam vermehrt Kritik auf, dass die einzelnen Grätzl sehr cis-männlich dominiert sind und dort wenig Raum für FLINTA* ist, sich zu entfalten. Deshalb gibt es seit kurzem FLINTA*-Bauworkshops, abwechselnd sonntags und freitags jede Woche, an denen explizit FLINTA* eingeladen sind, sich diese cis-männlich dominierte Tätigkeit anzueignen. Die Fußballnachmittage am Samstag sind auch ein Raum, in dem stark darauf geachtet wird, die sexistischen Tendenzen der Fußballwelt nicht zu reproduzieren. Trotzdem müssen wir noch mehr Angebote in den Grätzeln schaffen und diskutieren, wie wir miteinander umgehen wollen. Vor allem bei cis-Männern fehlt es da manchmal an Awareness.
S: Fridays for Future, Extinction Rebellion, der Jugendrat und System Change not Climate Change haben sich am Camp gemeinsam mit autonomen Personen zusammengeschlossen. Bis vor einigen Monaten gab es nur wenig Austausch zwischen diesen Gruppen. Könnte eine engere Bündnisarbeit ein Erfolg sein, der das Camp überleben wird?
R: Ja, das glaube ich auf jeden Fall. Es gibt zwar auch ein großes Konfliktpotenzial am Camp, weil die Grundhaltungen und Hintergründe der Menschen teilweise sehr verschieden sind. Aber zwischen diesen Menschen findet ein Austausch statt. Deshalb ist es insgesamt eine sehr lehrreiche Zeit und auch ein Stück Miteinander- und Zusammenwachsen.
S: Seit Beginn der Besetzung ist von weiten Teilen der Wiener linken Szene erstaunlich wenig im Camp zu sehen. Fühlt ihr euch im Stich gelassen?
R: Insgesamt fehlt es an einem Austausch zwischen der Klimagerechtigkeitsbewegung und antifaschistischen Gruppierungen. Da stehen wir dann oft als Klima-Hippies da. Dabei ist es so wichtig, dass wir uns solidarisch auf unsere Kämpfe beziehen und sie miteinander verbinden. Natürlich sind die Herangehensweisen sehr unterschiedlich und im Zusammenleben ergeben sich viele Fragen: wie gehen wir mit der Asfinag und der Polizei um, ist es okay, das Holz von der Nebenbaustelle zum Bauen zu verwenden. Diese Fragen schrecken ab, weil sich das nach viel Arbeit anfühlt. Gleichzeitig ist es extrem wichtig, aus der Komfortzone herauszutreten und sich auch mal darauf einzulassen, am Lagerfeuer eine Grundsatzdiskussion zu führen, weil es hier um so viel geht. Es geht um das kapitalistische System Auto und darum, dass die sozialen und ökologischen Folgen der Klimakrise vor allem im Globalen Süden, aber zunehmend auch in Österreich zu spüren sind. Da brauchen wir alle einen langen Atem. Aber zum Glück wird es das Camp ja noch eine Weile geben.
S: Zum Abschluss, was würdest du den Leser_innen gerne sagen, die bisher noch nicht oder nur wenig am Camp waren?
R: Dass es sich auf jeden Fall lohnt, vorbeizukommen. Das Camp ist ein Ort, wo wir uns bewegungsübergreifend organisieren und enger zusammenwachsen können. Das brauchen wir nicht nur für den Widerstand gegen das Lobau-Projekt, sondern auch für alle weiteren Kämpfe. Die Stadt Wien plant trotz der Absage der Lobau-Autobahn die Stadtautobahn mitten durch Hirschstetten zu bauen. Jetzt ist es umso wichtiger, den historischen Sieg zu nutzen, um auf den Besetzungen zu zeigen: Kein Meter neue Autobahnen! Du willst das Lobau-Protestcamp unterstützen? Dann komm zum Protestcamp in der Anfanggasse und bring dich ein! Langsam wird es kalt auf den Baustellen und die Aktivist_innen freuen sich über warme Sachen, Holz und vor allem deine Präsenz!
Autor: Sascha
1: Scientists for Future Österreich: Wissenschaftler*innen zerpflücken das Lobautunnel-Projekt, URL: https://bit.ly/3w3BRgx (Zugriff: 1.11.2021)
2: Wiener Klimarat: Prioritäten zur Erreichung der Wiener Klimaziele (Vers. 2.2), URL: https://bit.ly/31are04 (letzter Zugriff 1.11.2021)
3: Krams, Mathias: 7 Gründe, warum neue Autobahnen antisozial sind, Mosaik, URL: https://bit.ly/3EqkI3M (letzter Zugriff 1.11.2021)
4: Groll, Tina: „Wir müssen das Dorf zurück in die Stadt bringen“, Zeit Online, URL: https://bit.ly/3jVOzsT (letzter Zugriff 1.11.2021)
5: Smits, Alexis: Die Lobauautobahn: Ein männliches Projekt, Mosaik, URL: https://bit.ly/3w654Yw (letzter Zugriff 1.11.2021)
6: Krams, Mathias, ebd.
7: Yates, Luke: Rethinking Prefiguration: Alternatives, Micropolitics, and Goals in Social Movements, in: Social Movement Studies, 14:1 (2014), 1-21
8: Maeckelbergh, Marianne: The Will of the Many. How the Alterglobalisation Movement is Changing the Face of Democracy, London 2009